Zum Inhalt springen

Der “O”-Effekt

Erschienen in der Zeitschrift “Praxis Kommunikation01/19 vom Jungfermann Verlag

Warum funktionieren „Päckchen zurückgeben“ und chronologisch stark versetzte Lösungsangebote sowohl im eigenen Kontext als auch über die Generationen hinweg? Ein Erklärungsmodell.

Im Miteinander zwischen Menschen bauen sich Ungleichgewichte auf, die teilweise über den Tod hinausgehen und von den nachfolgenden Generationen getragen werden. Es ist allerdings möglich, auch diese transgenerationalen Konflikte,  zu beenden. Wir wissen aus Coaching und Aufstellungsarbeit, dass es funktioniert, nicht mehr dienliche „Päckchen“ unter Wahrung der Wertschätzung auch an heute nicht mehr Lebende zurückzugeben. Danach erleben wir oft, dass es Klienten mit ihren Themen und ihrer Wahrnehmung von Gesundheit deutlich besser geht. Auf der Suche danach, wie das möglich ist, sind wir auf verschiedene Funktionen des Denkens gestoßen. Einer davon ist der Ovsiankina-Effekt1, kurz O-Effekt.

Zwei Beispiele:

Bei einem Klienten stellten sich immer dann Herzbeschwerden ein, wenn er nicht genug Anerkennung von seinem Chef bekam.  Sein ebenso erweitertes Leistungsbedürfnis  produzierte zusätzlichen Stress und einen zu hohen Blutdruck. Während der Arbeit mit ihm stellte sich heraus, dass schon sein Vater dieses Thema hatte und keine Lösung erreichte. Der Klient könnte also dieses ungelöste Thema von seiner männlichen Linie übernommen haben.

Eine Klientin bekommt nach einem Jubiläums-Klassentreffen Albträume. Immer wieder träumt sie dieselbe Szene, in der sie von jemandem gejagt wird. Kurz bevor sie eingeholt wird, schreckt sie aus dem Schlaf hoch. Im Coaching finden wir heraus, dass ein Klassenkamerad sie gezielt gemobbt hatte. Dazu gesellte sich der Ärger über sich selbst, dass sie es damals mit sich hat geschehen lassen ohne sich zu wehren.

Der O-Effekt

Bijuma Zeigarnik postulierte 1927, dass man sich an unabgeschlossene Aufgaben besser erinnert, als an abgeschlossene2. Dieser Effekt konnte lange nicht genügend wissenschaftlich fundiert werden und wurde auch teilweise widerlegt. Erst die Forscherin Maria Ovsiankina konnte auf Zeigarniks Arbeit aufbauend einen spezifizierten Effekt beschreiben und belegen: Beim Unterbrechen einer Handlung ergibt sich eine deutliche Tendenz, diese Handlung wieder aufzunehmen, wenn das Handlungsziel vorher noch nicht erreicht wurde. Eine Handlung nach einer Zufallsunterbrechung wird mit einer  Wahrscheinlichkeit von fast 100% erneut aufgenommen; bei Störungsunterbrechung sind es 79%. Niemand kehrte im Versuch zu einer schon abgeschlossenen Aufgabe zurück.

Kurt Lewins Feldtheorie beschreibt diesen Effekt als aufgebauten Spannungszustand, der nach Abbau drängt3. Daher führt dieser auch zu einem besseren Erinnern der unterbrochenen Handlung gegenüber der erledigten Handlung. Der O-Effekt besagt zudem, dass eine zuvor unterbrochene Aufgabe auch ohne Anreizwert ein Bedürfnis auslöst, die Aufgabe wieder aufzunehmen und zu lösen. Oder in einfachen Worten ausgedrückt: Manchmal tut man etwas (auch nicht Dienliches), ohne dass es zwingend dem aktuellen eigenen Bedürfnis entspricht. Der Wunsch dabei ist, ein «altes» Spannungsmuster abzubauen, das mit einem Ziel in Verbindung steht, das ggf. längst schon nicht mehr bewusst ist.  

Forscher (Wu et. al.4) legen dar, dass die Gedächtnis-Erinnerungsleistung von  vertrauten, nicht abgeschlossenen Aufgaben besser ist als für neue abgeschlossene  Zustände oder Aufgaben. Menschen „merken“ sich also unbewusst vertraute – im Sinne von schon mal erlebte –  ungeeignete“ Zustände besser, zu denen die Wahrnehmung von Versagen oder Unvollständigkeit einer Handlung gehören.

Aus unserer systemischen Sicht werden Krankheit, Tod, Gewalt oder (notwendige) Trennung innerhalb von Familien deswegen besonders „erinnert“, weil sich wichtige vertraute Zustände auflösen und so unbewusst als Versagen und/oder Unvollständigkeit interpretiert werden können.

Ein typisches Beispiel könnten Frauen sein, deren Väter abwesend waren und die sich immer wieder Partner suchen, die emotional oder körperlich selten präsent sind. 

Wir denken, dass z.B. ein Mitglied einer Familie „weiß“, dass etwas für das System noch gelöst werden möchte. Dies könnte als eine Art unbewusster Auftrag interpretiert werden, der ebenso unbewusste Lösungsversuche aktiviert.

Ob in der Folge wirklich Lösung geschieht, hängt von vielen weiteren Faktoren ab, wie z.B. der Transfer von der unbewussten auf die bewusste Ebene durch Gewahrwerden von potenziellen, manchmal generationsüberspannenden, Wiederholungsmustern. Wird darüber hinaus die Entscheidung getroffen, das System zu entspannen, wird eine finale Lösung wahrscheinlicher. Wir kennen aus der Aufstellungspraxis auch den Umstand, dass auch unbekannte blockierende Muster gelöst werden können. Es scheinen also Mechanismen zu existieren, die eine Lösung ermöglichen, wenn die Ursache kognitiv unbekannt ist.

Die für Coaches greifbaren Lösungen dieser im Gehirn aufgebauten Potentiale sind in der systemischen Struktur begründet. So kann die These aufgestellt werden, dass allein dadurch ein Spannungsfeld im Denken aufgebaut wird, weil eine Aufgabe in der Familie vorher nicht gelöst worden ist. Zum Tragen kommt dieses ggf. erst Jahre später. Typische Erscheinungen können die aufgezählten Beispiele oder auch Gefühle von genereller Hilflosigkeit, Aggressivität, Wut und Angst sein. In der Folge baut sich ein Glaubenssystem auf, welches das Erleben erklären will und die „Realität“ somit stützt und nährt. Ein Teufelskreis aus unbewusster Selbstsabotage kann beginnen.

Die zweite Erkenntnis des O-Effekts ist das Prinzip, dass durch geeignete Ersatzhandlungen ein Abbau der erhöhten Spannung erfolgt. Die Herausforderung dabei ist, dass das Ziel meist nicht mehr im ursprünglichen Kontext bewusst ist, allerdings der Wunsch nach Lösung immer noch unbewusst verfolgt wird.  

Lösungsbeispiele

Der Herzpatient verstand, dass sein Muster „ich bin nicht gut genug“ ursprünglich zum Vater gehörte und sich heute als Projektion auf seinen  Chef auswirkte. Dies konnte in einer systemischen Aufstellung geklärt werden. Wir erschufen ein Ritual, in dem er einen symbolischen Stein mit heilsamen Sätzen an seinen Vater zurückgab. In der Folge veränderte er dem Chef gegenüber sein Muster. Seine  Herzprobleme verschwanden.

 Die Klientin mit den Albträumen holte sich – jetzt als Erwachsene- ihren Klassenkameraden in inneren Bildern  dazu. Nach Verbindung mit ihren zuträglichen Ressourcen sagte sie ihm über 25 Jahre nach dem Mobbing, wie schrecklich der damalige Spießrutenlauf durch die Schule für sie war. Auch von Ihrer Wut über sich selbst, dass sie sich nicht wehrte, erzählte sie. Sie sagte ihm all das, was sie sich damals nicht traute. Ein minutenlanger Strom an Worten und Emotionen versiegte schließlich und große Entspannung und Erleichterung stellte sich ein. Sie sagte: Endlich bin das los. Abschließend reflektierte sie, dass er diese Schikane wohl leider für sein Ego brauchte und dankte ihm sogar dafür, dass er sie schon damals darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie an ihrem Selbstbewusstsein arbeiten durfte. Die Alpträume waren vorüber.

Allgemeine Lösungswege aus der Coachingpraxis

Lösungsweg 1

Der systemisch inspirierte Ansatz lautet: Wir laden zu Ersatz- oder Ausgleichshandlungen ein, welche die betroffenen Menschen und Verantwortlichen, egal ob schon verstorben oder noch lebend, mit einbeziehen. Das kann auch symbolisch oder durch ein stimmiges Ritual erfolgen. Nach Loslass- und Rückgaberitualen können neue Kompetenzen aufgebaut und verankern werden.

Lösungsweg 2

Wir erarbeiten mit den Klienten Ziele mit genügend starker Motivation. So entsteht eine neue  Wahlmöglichkeit im Handeln. Das alte Muster kann ersetzt werden.

Lösungsweg 3

Seitens des Verständnisses der logischen Ebenen des Verhaltens können Situationen im Jetzt gefunden werden, die Ähnlichkeiten mit den damaligen Situationen haben. So kann das Abschließen eines Ersatzthemas mit Ressourcenaktivierung eine Lösung für das alte Thema sein  und der Auftrag der Vergangenheit ist erfüllt.

Welche Methodik auch angewandt wird. Im Coaching, erweitern wir den Blick auf die Familien-Biographie und die individuellen Kompetenzen, um Veränderung alter Aufträge zu bewirken. So lässt sich ein spezifisches, heute undienlich gewordenen Muster u.a. durch Ersatzhandlungen (auch transgenerational) in eine Lösung verändern, die nach keinem weiteren Lösungsversuch verlangt. In der Folge kann ein Muster entwickeln werden, welches aktuell dienlich ist.

Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis: Therapie und Medizin

Besonders im Hinblick auf transgenerationale Konflikte oder andere unbewältigte Probleme sehen wir diesen Blickwinkel als Bereicherung zur klassischen Anamnese. Was für Aufgaben sind Teil des Lebensauftrags und suchen immer wieder nach Lösungen. Wenn die Klienten es schaffen, ihr eigentliches Thema zu erkennen und abzuschließen, kann er für sie und nachfolgende Generationen viel Gutes bewirken. Untersuchungen weisen darauf hin, dass sich aufgrund positiver Veränderung der inneren Haltung, auch genetische Expressionsmuster verändern lassen5. So könnte der genaue Blick in die Biographie und das Finden und Lösen von unabgeschlossenen Aufgaben ggf. eine alternative Lösung zu Medikamenten (z.B. gegen Bluthochdruck) sein.

Fazit

In unserem Erklärungsmodell können Menschen fern vom eigentlichen Ursprung des Problems durch Ersatzhandlungen sowohl systemisch/ transgenerational als auch im eigenen Kontext Aufgaben erledigen und Bedürfnisse befriedigen. Durch eine auch emotional erlebte Lösung mit Ausgleichs-/resp. Ersatzhandlungen sendet das Unbewusste keine weitere Wiederaufnahme-Aufforderung. Der alte Spannungszustand ist abgebaut, das übergeordnete universelle System ist bezogen auf den Trigger wieder entspannt.

Wir glauben, dass die Hilfe zur Bewältigung unerledigter Aufgaben in individuellen als auch in generationsübergreifenden Problemkontexten einen großen Beitrag für Gesundheit in Selbstverantwortung darstellt. Darüber hinaus regen wir einen beginnenden Dialog zwischen Coaching und Therapie für zukünftige Schnittstellen an, sowie empirische Feldforschung unter Einbeziehung der Bereiche Epigenetik und Quantenphysik.

1: Ovsiankina, M. (1928): Die Wiederaufnahme unterbrochener Handlungen. Psychologische Forschung 11 (3/4), 302–379. Psychologisches Institut der Universität Berlin

2: Zeigarnik, B. (1927) : Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen. Psychologische Forschung 9, 1-85. Psychologisches Institut der Universität Berlin

 3: Stützle-Hebel, M., Antons, K. (2017): Einführung in die Praxis der Feldtheorie; Carl-Auer Compact,  ISBN-10: 3849702014

4: Wu, X. et al. (2018): The Mnemonic Effects of Novelty and Appropriateness in Creative Chunk Decomposition Tasks. Front Psychol. 9;9:673.

5: Lipton B. (2016): Intelligente Zellen – Wie Erfahrungen unsere Gene steuern. (Koha-Verlag, ISBN 978-3-86728-307-6)

Über uns

Markus Röder und Dr. Andrea Friedrich: uns einen u.a. die Grundannahmen des NLP, die ein positives Menschenbild und Ressourcenverfügbarkeit als  Basis formulieren. Nach insgesamt über 30 Jahren praktischer Erfahrung sind wir der Meinung, dass „Glück und Salutogenese“ Eingang in elementar-/ bzw. vorschulpädagogische Konzepte sowie als Schulfach der Grundschule finden sollte.  Dies würde langfristig individuelle und gesellschaftliche Gesundheit in Selbstverantwortung unterstützen.