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Schuld im systemischen Sinne

Was ist Schuld? Dieser Begriff erschien uns vor der Berührung mit der systemischen Aufstellungsarbeit ein Begriff aus alten, traditionellen, christlichen Glaubensvorstellungen zu sein. „Schuld“, ein Wort welches im direkten Zusammenhang mit Sündenfall, Hölle und Fegefeuer zu stehen schien und daher nicht in unser Weltbild passte und somit überflüssig war. Der Begriff Unrecht erschien uns ausreichend genug. In der systemischen Arbeit jedoch tauchte der Begriff Schuld wieder auf, und nahm einen anderen Stellenwert ein.

Aufstellungen zeigen, dass es innerhalb von Systemen, Paarbeziehungen, Familien, Glaubensgemeinschaften, Gemeinschaften, Völkern, Kulturen, etc. eine Instanz für Recht und Unrecht gibt. Auch jeder Mensch trägt für sich persönlich eine solche innere Instanz in sich. Wenn diese Instanz entscheidet, dass Unrecht geschehen ist, dann folgt daraus, das dafür gesühnt werden muss, ein Ausgleich stattfinden muss, dass dafür sozusagen „bezahlt“ werden muss. Siehe auch „Ovsaneskina-Effekt“= O-Effekt. Wenn im systemischen Sinne von Schuld gesprochen wird, ist genau dieser noch zu leistende Ausgleich gemeint. In diesem Sinne kann es für Schuld auch keine objektive Bewertung oder Maßstäbe geben.

Ein Beispiel dazu könnte sein, dass ein Ehemann in bestimmten Religionen mehrere Ehefrauen gleichzeitig haben darf, ohne sich dafür jemals schuldig zu fühlen. Ein Partner in einer unverheirateten Paarbeziehung sich nach einem einmaligem sexuellen „Ausrutscher“ aber jahrelang schuldig fühlt. Oder, ein Soldat der im Krieg andere Soldaten tötete, kann sich dafür hinterher keine Schuld empfinden, obgleich er menschen umgebracht hat. Wenn aber ein Soldat im Krieg Zivilbevölkerung töten musste, dann kann er dafür hinterher Schuld fühlen, obwohl er dafür nie verurteilt wurde. Unrecht ist also nicht gleich Schuld.

Unterschiedliche Formen von Schuld:

  • Individuelle Schuld
  • Familiäre Schuld
  • Kollektive Schuld
  • Frauen und Männer
  • Stellvertretende Schuld
  • Schuld aus verschiedenen Systemen

Individuelle Schuld

Bei individueller Schuld sollte in der Aufstellungsarbeit unterschieden werden, zwischen tatsächlich ausgeübten schweren Verbrechen, Vergehen gegen das geltende Gesetz, wie Mord, Totschlag, Missbrauch, Vergewaltigung, Ausübung von schwerer Gewalt, Freiheitsberaubung etc.. Für diese schweren Verbrechen muss systemisch gesehen derjenige, der sie ausgeübt hat, selber die Verantwortung tragen, also zu seiner Tat stehen. Hier passt das Wort Sühne ganz gut. Sühnen laut Duden: etwas, was jemand auf sich nimmt, was jemand tut, um ein begangenes Unrecht, eine Schuld zu sühnen, Buße tun. In der Aufstellungsarbeit zeigt sich immer wieder, wenn er diese Verantwortung nicht übernimmt, wird diese Schuld ein anderes Familienmitglied/Nachkomme übernehmen und mit Schuldgefühlen oder anderen Symptomen der Schuld leben müssen.

In der systemischen Arbeit ist das Feld der individuellen Schuld aber noch viel weiter zu fassen, als eine Straftat nach Gesetzbuch. Nachfolgend einige Beispiele dazu:

Abtreibung, Kuckuckskind, uneheliches Kind, Kinder zu Adoption freigeben, Selbstmord, Verrat, ein zu Unrecht angetretenes Erbe, einen anderen Menschen anstatt des Ehepartners lieben, die Familie nicht ernähren können, sich als Erstgeborener verantwortlich für die Ehe der Eltern zu fühlen, am Tod der Mutter im Kindbett, die Schuld am Leben geblieben zu sein, obwohl jemand anderer daran gestorben ist, und Vieles mehr.

Es ist sehr spannend in Familienaufstellungen zu beobachten, wie sich auch diese individuelle, nicht als Straftat nach dem Gesetzbuch einzuordnende Unrechtmäßigkeit, oftmals über Generationen als Schuldgefühle fortsetzen kann.

Familiäre Schuld

Unter familiärer Schuld wird im systemischen Sinne alles Unrecht verstanden, was sich innerhalb einer Familie, sozusagen im Einverständnis oder Stillschweigen der Familienmitglieder zugetragen hat und sich weniger auf eine einzelne Person bezieht. Dazu gehören Themen wie, das Dulden und Verschweigen häuslicher Gewalt und Missbrauch, unterlassene Hilfeleistung innerhalb der Familien, Verehelichung gegen den Willen, Enterbung, ungerechte Erbschaften, starke Übervorteilung, Benachteiligung innerhalb eine Geschwisterreihe, uneheliche Kinder innerhalb einer Familie, Kinder zu Adoption freigeben, der Ausschluss eines Familienmitgliedes, das schwarze Schaf der Familie.

Weiterhin gehören zur familiären Schuld aber auch Themen, wo eine Familie sich an einzelnen Menschen, anderen Familien oder sonstigen anderen Gruppen schuldig gemacht hat. Wenn sich z.B. eine Familie an dem Besitz einer anderen Familie zu Unrecht bereichert hat, wenn eine Familie sich an grober Ungerechtigkeit, Enteignung, Ausbeutung und Versklavung anderer Menschen beteiligt hat. Zum Beispiel wurden im Dritten Reich jüdische Firmen/Geschäfte zwangsgeschlossen und andere deutsche Familien haben sich an diesem Verlust bereichert. Die Kriege haben für viele solcher Familienschuldigkeiten hervorgerufen. Eine solche Familienschuld könnte auch bei Großgrundbesitzern und Familienunternehmen vorliegen, die ihren persönlichen Besitz unrechtmäßig auf Kosten anderer vermehren, z.B. Kolonialzeit, Besiedlung Amerikas.

Wenn in einer Familie oder durch eine Familie Unrecht verübt wurde, dieses aber von den Wissenden aus welchem Grund auch immer versteckt bzw. verschwiegen wird kommt es zu einem Familiengeheimnis. In einem Familiensystem mit einem Geheimnis sind neben Verwirrung auch oftmals Schuld oder Scham zu finden.

Kollektive Schuld

Was verstehen wir im systemischen Sinn unter Kollektiv? Unter kollektiver Schuld?

Alle Personengruppen, die ein gemeinsames Wertesystem, eine religiöse, kulturelle, regionale, nationale oder wirtschaftliche Zugehörigkeit haben, die über die Zugehörigkeit einer Familie hinaus reichen, können ein Kollektiv darstellen. Es kann sich dabei z.B. um eine Dorfgemeinschaft, eine Glaubensgemeinschaft, eine Volk oder auch eine ganze Nation handeln, aber auch um eine Firma, eine Schule, eine Parteizugehörigkeit. 

Wie nun kann sich ein Kollektiv schuldig machen? Es kann ein tatsächliches Unrecht begehen oder auch ein Unrecht von dem Kollektiv veranlasst werden. Dabei kann es sich um eine anerkannte Straftat handeln, wie Mord oder Raub, aber auch um Straftaten, die das Kollektiv in ihrem herrschenden Wertesystem als Recht einstuft, z.B. Freiheitsentzug, Gewalt, Missbrauch, Enteignung. Oder auch um ein kollektiv ausgeübtes bzw. stillschweigend hingenommenes Unrecht, z.B. durch Ausgrenzung, Abwertung anderer Menschen.

Hier einige Beispiele dazu:

  • Ausschluss und Ausgrenzung aus einer Dorfgemeinschaft
  • Diskriminierung von Frauen mit unehelichen Kindern
  • eine Sekte, die ihre Mitglieder ausbeutet und die Freiheit entzieht
  • eine Firma entwickelt und vertreibt unzulässige, gesundheitsschädliche Produkte
  • ein Volk oder eine Nation für einen Krieg verantwortlich ist
  • Judenverfolgung, Christenverfolgung
  • Bildung von indianischen Reservaten
  • Kolonialisierung
  • Standes-, oder Kastendenken
  • etc.

Wenn in diesem vielfältigen Sinne ein Kollektiv ein Unrecht begeht, können alle die sich diesem Kollektiv zugehörig fühlen, weil sie z.B. im gleichen Dorf leben, weil sie diesem Volk, dieser Religion, dieser Nation angehören, Schuld empfinden. Dabei kann es ein, dass sie persönlich an keiner unrechten Tat beteiligt waren, oder aber ein Unrecht erkannt und geschwiegen haben. Sie müssen zum Zeitpunkt des unrechten Handelns noch nicht einmal gelebt haben. Hier allein gilt die Zugehörigkeit zum Kollektiv! Kollektive Schuld kann über viele Generationen und Jahrhunderte weitergegeben werden.

Wie viele Deutsche, auch unserer Generation empfinden Schuld, Schuld ein Deutscher zu sein, Schuld weil Deutschland zwei Weltkriege begonnen hat, Schuld an großem Leid vieler Menschen zu sein, Schuld und auch Scham.

Frauen und Männer

Die durch unsere Sexualität entstandene Zugehörigkeit darf hier an dieser Stelle natürlich nicht fehlen. Frauen bilden ein Kollektiv, Männer bilden ein Kollektiv. Viele Jahrhunderte, vielleicht schon seit Anbeginn der Menschheit haben zwischen Frauen und Männern Verletzung, Verachtung, Machtausübung, Kriege stattgefunden. Schuldig zu sein, weil ich eine Frau bin. Schuldig zu sein, weil ich ein Mann bin. Sich schuldig zu fühlen, weil wir das andere Geschlecht nicht achten und ehren können. Sich schuldig zu fühlen, weil wir dem anderen Geschlecht im tiefsten Inneren nicht verzeihen können. Sich schuldig zu fühlen, weil wir das andere Geschlecht nicht schützen konnten. Sich schuldig zu fühlen, weil wir das eigene Geschlecht nicht schützen konnten.

Das Thema „Frau und Mann und Schuld“ taucht in vielfältigen Zusammenhängen in der systemischen Aufstellungsarbeit immer wieder auf.

Stellvertretende Schuld

Die stellvertretende Schuld spielt in der Aufstellungsarbeit eine sehr wichtige Rolle. Mit stellvertretender Schuld ist jegliche Art von Schuld gemeint, die nicht auf ein persönlich ausgeübtes Unrecht zurück zu führen ist. Derjenige, der sie trägt, hat sie aus einem Zugehörigkeitsempfinden übernommen. Dabei kann es sich um eine familiäre Zugehörigkeit oder auch eine Zugehörigkeit zu einem Kollektiv jeglicher Art handeln. Im Falle von Kindern und Eltern/Großeltern wird die Schuld oft aus Liebe übernommen. Ein Träger von stellvertretender Schuld versucht, ob bewusst oder unbewusst das gegangene Unrecht stellvertretend zu sühnen oder zu einem Ausgleich zu führen.

In systemischen Rückgabe-Ritualen kann die übernommene, stellvertretende Schuld an die Verantwortlichen zurückgegeben werden.

Schuld aus verschiedenen Systemen

Eine Schuld kann ihren Ursprung in mehreren Zugehörigkeits-Systemen gleichzeitig haben. Da wird es dann ganz spannend, denn es entsteht ein sehr großes systemisches Spannungsfeld.

Zur Verdeutlichung einige Beispiele dazu:

  • Ein Kind aus einer gemischten Ehe. Eine deutsche Mutter, ein Roma-Vater, ein deutscher nationalsozialistischer Großvater, ein im Dritten Reich verfolgter Roma-Großvater/mutter.
    Zugehörigkeit 1 = Familie, Zugehörigkeit 2 = Nationalität Deutsch, Zugehörigkeit 3 = Roma, Zugehörigkeit 4 = Nazi
  • Ein homosexueller nationalsozialistischer Mann verrät seinen homosexuellen Partner aus Furcht um die eigene Karriere an die SS. Dieser Mann wird von der SS verhaftet, gefoltert und stirbt später im Konzentrationslager.
    Zugehörigkeit 1 = Mann, Zugehörigkeit 2 = Homosexualität, Zugehörigkeit 3 = Beziehung/Familie, Zugehörigkeit 4 = Nazi
  • Eine Familie lebt in einem kleinen Dorf in der DDR. Sie bespitzelt aus Überzeugung andere Familien, und hat dadurch erhebliche wirtschaftliche Vorteile. Eine der Familien im Dorf wird von ihnen an die Stasi verraten, der Vater kommt ins Gefängnis, die Familie gerät ins Elend und muss das Dorf verlassen.
    Zugehörigkeit 1 = Dorf, Zugehörigkeit 2 = Familie, Zugehörigkeit 3 = SED
  • Eine moslemische Mutter, die selber schon unglücklich von ihrer Familie verheiratet wurde, weiß von der geheimen Beziehung zu ihrer Tochter mit einen christlichen Jungen Mann. Sie verrät die Tochter an den Vater, dieser will sie zu einer Ehe mit einem Moslem zwingen. Sie weigert sich und wird aus der Familie ausgestoßen.

Zugehörigkeit 1 = Frau, Zugehörigkeit 2 = Familie, Zugehörigkeit 3 = Religion

Wenn wir dann noch von Reinkarnation ausgehen, trägt nebst den ganzen Zugehörigkeiten dieses Lebens, möglicherweise auch unsere Seele noch eine weitere Zugehörigkeit in sich. So könnte es zum Beispiel sein, dass unsere Seele sich dem jüdischen Volk zugehörig fühlt, obgleich in der direkten Ahnenlinie keine jüdischen Vorfahren gibt. Wie können wir dann mit der Schuld unserer direkten Vorfahren leben?

Schuld und Scham

An dieser Stelle möchten wir auf den wesentlichen Unterschied zwischen Schuld und Scham hinweisen. Sie werden häufig in einem Atemzug genannt. Für die systemische Arbeit, aber auch für jede beratende therapeutische Arbeit sollten sie unterschieden werden. Schuld ist immer auf ein Geschehen bezogen – Handlung, Nicht-Handlung Sprache, Schweigen etc.. Scham dagegen bezieht sich die Identität den Menschen.

Schuld = ich habe etwas falsch gemacht

Scham = ich bin falsch

Schuld-Symptome

Schuldsymptome haben ein großes Spektrum an Ausdruck. Dabei treten die Schuld-Symptome der stellvertretenden Schuld oftmals nicht abgemindert, sondern eher verstärkt auf. Die Träger von Schuld sehen zwar oft ein, dass sie nicht schuld sind, das ändert jedoch oft wenig an den Gefühlen. Schuldgefühle erweisen sich auch oft als ausgesprochen hartnäckig gegenüber therapeutischen Veränderungsversuchen.

  1. Schlechtes Gewissen
  2. Selbstbestrafungstendenzen bis hin zum Selbstmord
  3. Anhaltender Stress und Überforderung
  4. Schlaflosigkeit
  5. Sexuelle Störungen
  6. Zwänge
  7. Schwellenängste
  8. Soziale Ängste
  9. Genussunfähigkeit
  10. Selbstboykott
  11. Erfolglosigkeit
  12. Bei stellvertretender Schuld im Falle eines Mordes kann es dazu kommen, dass ein Nachkomme selber zum Mörder wird
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